Nummer 13 und JETZT
 

Liebe Briefempfängerin, lieber Briefempfänger

Früher sprachen wir von «Briefschulden», meinten damit den Stapel noch unbeantworteter Briefe, die per Post und mit Briefmarke versehen, viele handschriftlich geschrieben, uns zugeschickt worden sind. Die verzögerte Antwort eröffnete ein Zeitfenster, in dem Neues sich bilden konnte. Briefe kommen meistens etwas verspätet, dafür reifer und gelassener. Sie hinken der hektischen «Echtzeit» immer nach, werden sie nie einholen, was gar nicht ihr Sinn und Zweck ist. So ist es auch mit den «Briefen aus der Mühle». Sie haben nicht den Ehrgeiz «am Puls der Zeit» zu sein, sondern der Zeit den Puls zu nehmen, eine Herzauskultation sozusagen.
Die Lebensströme fließen ihren eigenen Weg, vor allem die Tiefenströmungen und nehmen uns mit, ohne dass wir das so rasch merken. Der Blick aus unserem Lebensschifflein weckt uns dann auf, das Ufer, dem wir doch gerade noch so nah waren, ist plötzlich abgetrieben.
Wir nehmen den Faden wieder auf, bestärkt auch von einigen Nachfragen, wo denn die Briefe bleiben.

Vieles hat sich seit März 2020 verändert in der großen und kleinen Welt, in Mikrokosmos und Makrokosmos. Die Lüge allerdings ist eine Konstante geblieben. Dazu gesellt sich die Arroganz der Macht, die der US-amerikanische Senator J. William Fulbright in seinem gleichnamigen Buch schon Ende der Sechziger Jahre exemplarisch anhand der Geschichte des eigenen Landes beschrieben hat. Die Arroganz der Macht gepaart mit Verachtung. In Frankreich kocht es deshalb seit Wochen, Wut und Ohnmacht verbinden sich zu einem gefährlichen Gemisch. Ungehörtes Unrechtsempfinden führt zu Gewalt, zu Revolutionen. Ungehörtes Unrechtsempfinden kann geschürt werden, um maximales Chaos zu erzeugen, das dann genau die arrogante Macht für sich ausnutzen will. Prozesse, die in der Geschichte wiederholt dokumentiert sind. Noch ist der Ausgang offen. Die zunehmende Polizeigewalt kann auch ein Zeichen der Verunsicherung sein, weil sich die Menschen nach einer anderen Weltordnung sehnen, und ihnen diese Sehnsucht nicht auszutreiben ist.
Apokalypse ist immer Enthüllung. Alles kommt zum Vorschein, Altes fällt ab, offenbart sich in seiner ganzen Dekadenz, will sich aber mit Klauen und Zähnen verteidigen und erhalten. Die Sehnsucht nach dem Neuen steigt auf ins Sichtbare, ist angewiesen auf Wärme und Pflege wie alles Neugeborene, aber voller Zukunft und Vertrauen.
In diesem Geschehen begegnen wir uns selber. Es ist der Prozess, der im Ostergeschehen dargestellt und erlebbar ist. Oder auch in der paulinischen Aufforderung «Ändert Euren Sinn!». Das sind die Kraftquellen, um dem omnipräsenten Wahnsinn aufrecht und wahrhaftig suchend stand halten zu können. Gelingt es uns sogar, Vertrauen und Furchtlosigkeit zu gewinnen, dann verfügen wir über die nötigen Fähigkeiten, um Zukunftskeime sicher zu verwahren und zu pflegen, bis ihre Zeit kommen wird. Sie wird kommen.

Es gibt viele Möglichkeiten, diesen Prozess positiv zu beeinflussen. Gerade im Alltäglichen. Auch das freie Spiel ist ein Ort, an dem die individuelle Freiheit geübt und entwickelt werden kann. Gerda Salis Gross hat dazu einen Brief geschrieben, in dem sie dieses Thema prägnant zusammenfasst. Das Spiel wird so Refugium für Freiheitsliebende.

Wir wünschen einen großen Ostersonntag, Zuversicht, Herzenswärme und mutiges, klares Denken.

Jonathan Stauffer

 

 

 

Eine Qualität der Präsenz, der Klarheit, Flexibilität und Offenheit

Von Gerda Salis Gross

Jedes Kind spielt. So man es denn lässt. Das ist so etwa das Natürlichste, was Kinder machen, seit Menschen diese Erde bevölkern. Nun diagnostiziert man bei Kindern, in der Zahl von Jahr zu Jahr steigend, ein sogenanntes Spieldefizitsyndrom - Gamen natürlich ausgenommen. Vor allem in unseren hochentwickelten westlichen Ländern ist das der Fall, wo die Kinder möglichst schon von der Geburt, respektive bereits von der Zeugung an, mit Förder- und Animationsprogrammen aufs spätere Leben gedrillt werden. Sanfter gesagt: vorbereitet.
Haben sie denn überhaupt noch Zeit zum Spielen? Zeit fürs Ungewisse, noch Unbekannte, wo noch nicht klar ist, was jetzt passieren wird, wo das überhaupt hinführt? Zeit für diesen Impuls des Immer-Neuen, Schöpferischen, Welt neu Gestaltenden? Zeit für das noch nie Erlebte, noch nie Gedachte? Zeit für diese unerschöpfliche Transformationskraft des Spiels? Ich rede hier nicht von kulturell geprägten Spielen, «Games», die klar geregelt Werte und Normen unserer Gesellschaft widerspiegeln, wie etwa ein Schachspiel oder solchen, die digital als Programm ablaufen. Ich rede von einem im Augenblick frei sich entfaltenden Spiel, einer primären Qualität von Spiel. Kinder sind wahre Meister darin. Jederzeit. Überall. Sie brauchen nichts dazu. So man sie denn lässt. So man es ihnen nicht abgewöhnt hat.
Gabriele Pohl1 weist in ihrem Buch «Kindheit - aufs Spiel gesetzt» darauf hin, dass Spielforscher davon ausgehen, «dass Kinder bis zum vollendeten 6.Lebensjahr 15'000 Stunden spielen müssen (!), das heisst etwa 7 bis 8 Stunden pro Tag». Also frei spielen, nicht als Animation, Lernspiel oder Training. Wofür den? fragen viele Eltern und Lehrpersonen. Für ihre gesunde Entwicklung, um der aus ihrer inneren Weisheit sich entfaltende Lebensspur folgen zu können. Ihrer Spielspur, die sich immer aus dem Jetzt heraus zeigt, immer neu zeigt. Weil es ihre beste Möglichkeit dazu ist. Das kann ich nicht anleiten, wenn ich das Kind zum Spiel anregen will. Vielleicht bin ich nahe dran. Aber so ganz? Das weiss und wählt nur das Kind selber. Nun gut, Vieles ist dazu schon gesagt, ganze Bücher handeln davon. Aber eine Frage noch, liebe Leserin, lieber Leser: Wie weit wahren wir die Würde dem Kind gegenüber, wenn wir es von diesem Besten, was es tun kann, ablenken, indem wir ihm etwas Zweitrangiges anbieten, zum Lernen zum Beispiel oder zur Unterhaltung? Ist das wirklich ein dem Kinde würdiger Ersatz?
Dass das Kind im freien Spiel am meisten lernt, haben auch zeitgenössische Bildungsforscher festgestellt. Trotzdem ignorieren unsere Bildungssysteme diese Erkenntnis weitgehend. Bestenfalls verpacken sie sie aufgeschlüßelt in ihre Kompetenzmodelle. Warum? Das freie Spiel ist kein sonderlich gutes Geschäftsmodell. Und es könnte dann auch an einer gut etablierten Anpassungsfähigkeit fehlen beim heranwachsenden Humankapital. Aber ob das eine Sozialisierung ist, die dem jungen, lebensfreudigen Menschen wirklich würdig ist? Eine Sozialisierung, durch die er in diese Gesellschaft wirklich das einbringen kann, was sein volles Potential wäre? So er denn in dieses freie Spiel genügend hätte eintauchen dürfen. Sieben bis acht Stunden pro Tag. Dieses Bedürfnis des Kindes hört mit dem ersten Schultag nicht einfach so auf. In einem steten Wandel ist es, aber durchaus da und sucht seinen Raum, seine Möglichkeiten. Metamorphosen. Stuhl? Bildschirm?

Da komme ich nun zu meiner eigentlichen Frage an dich liebe Leserin, lieber Leser. Wenn doch diese geniale Möglichkeit des Spiels, diese Lebens-Transformationskraft eine so bedeutende Rolle spielt in der Kindheit eines jeden Menschen, also der Menschheit schlechthin - wo bleibt sie denn, wenn wir erwachsen werden? Ist sie auf der Stecke geblieben, abgeleitet in die Ecke des nicht so Wesentlichen oder gar völlig vergessen? Vielleicht auch unangenehm, fremd geworden? Soll ich etwa wieder spielen? Graf Dürkheim2 spricht davon, dass die Kinder und Erwachsenen im Spiel «zum Wesen durchbrechen». Erwachsene genauso wie Kinder? «Lernt man dies (die Spielkraft) erkennen und durchschauen und beobachtet dann den Menschen in seinen Zwanzigerjahren, wie er es jetzt mit dem Ernst des Lebens macht, mit dem, was nützlich, was zweckvoll im Leben ist, mit dem, wo man sich durch Erfahrung hineinfinden muß, so findet man, daß jetzt der Mensch in den Nutzen, in die Zweckmäßigkeit der Welt, in das, was vom Leben gefordert wird, sich so hineinstellt, mit einem solchen Charakter sich hineinstellt, wie er es zuerst in den kindlichen Lebensjahren im kindlichen Spiel frei gezeigt hat.»3  So beschreibt Rudolf Steiner die Metamorphose der kindlichen Spielkraft im Erwachsenenleben. An anderer Stelle spricht er auch von der Urteilsfähigkeit, die sich auf der Grundlage des als Kind gelebten freien Spiels entwickeln kann.
Wenn ich mir also im Erwachsenenleben diese Spielkraft bewahre, auch bewusst als solche bewahre, bietet sie mir die Möglichkeit, mit jeder «Zweckmässigkeit der Welt», also mit jeder Lebenslage im Spiel bleiben zu können. In diesem Raum des Neuen, Schöpferischen, noch nie Gedachten. In diesem offenen Raum, im Spielraum. Was wird sich zeigen? Was braucht es jetzt? Sind meine Sinne offen, auch mein Gedankensinn? Oder ordnet er alles in altgespurten Pfaden in mir ein? Sicher, diese sind mir vertraut. In ihnen erkenne ich mich, so meine ich jedenfalls. Sind sie noch ich? Oder habe ich mich in der Offenheit des Spiels zart weitergesucht, neugesucht? Wohin? Ich lausche. Spiellauschen.
Wie ist das mit der Würde mir selber gegenüber? Bin ich erst würdevoll, wenn meine Visitenkarte eine definierte, etablierte und hochgeschätzte Aussage über mich macht? Vielleicht würdige ich mich selber eher, wenn ich mir den Spielraum zulasse, immer wieder neu zu schauen, was das Leben mir jetzt zeigt, was es braucht, damit ich mir selber gegenüber wahr bleibe. Alles Lebendige ist bewegt, bleibt immer in Bewegung. Schwinge ich mit? Verstehe ich diese Spieleinladung, diese neue Geste? Oder möchte ich am Altbewährten festhalten? Was ist dann? Was will ich?
Das primäre freie Spiel ist immer eine Qualität der Präsenz, der Klarheit, Flexibilität und Offenheit gegenüber dem, was sich gerade zeigt. Es ist immer Bewegung, ein Mitschwingen im Jetzt, ohne die innere Mitte, den Schwerpunkt in sich zu verlieren. Es birgt in sich auch die Kraft des «jung Werdens in mir». Wie Baba Jaga im Märchen, wenn der Held Iwan ihr als Dank die Äpfel der Jugend bringt. Und sie tanzt wie ein junges Mädchen. Sie ist im Spiel mit der Lebensweisheit, auch den wildesten Drachen gegenüber. In diesem Sinne ist die Spielkraft in uns auch immer eine Möglichkeit mit Unerwartetem, mit Krisen umzugehen. Sie ist uns geschenkt, von Anfang an, jedem Menschen. Lebt sie in mir oder habe ich sie auch ersetzt? Womit? Unsere Gesellschaft bietet uns ein mächtiges Ersatzangebot an, für jeden nach seinem Geschmack. Auch meine lieb gewonnenen Gewohnheiten. Taugen sie noch, heute? Dass ich voll Freude in den Tag schaue, den Neuen. Zu dem das Spiel mich einlädt. Jetzt.

 

1 Gabriele Pohl: Kindheit - aufs Spiel gesetzt, 2008, dohrmann Verlag

2 Karlfried Graf v. Dürckheim, Durchbruch zum Wesen, 2006 Hogrefe

3 Rudolf Steiner, Erziehung und Unterricht gegenüber der Weltlage der Gegenwart GA335, Seite 172

Gerda Salis Gross, 1957 geboren, nach dem Lehrerseminar in Chur Lehrtätigkeit meistens im sonder- und heilpädagogischen Bereich in Waldorf-Schulen in Schweden und der Schweiz. Mutter von fünf Kindern und Grossmutter. Ausbildung in Geomantie. Seit über 35 Jahren eine vielfältige phänomenologische Forschungsarbeit zur Frage des Spiels. 2012 Abschluss eines Praxisforschungsstudiums MA Special Needs Education zum Thema Spiel und Kommunikation an der Universität Plymouth. Tätigkeit in Aus- und Weiterbildungen, Vorträgen und Begleitung in persönlicher Entwicklung auf der Grundlage des primären Spiels.
Im Futurum Verlag ist ihr Buch erschienen: «Im Spiel – dem Leben Freiheit schenken»

 

WENN SIE DIE BRIEFE AUS DER MÜHLE UNTERSTÜTZEN WOLLEN

Geben Sie bei der Zahlung den Verwendungszweck «Briefe aus der Mühle» an:

via PayPal benützen Sie bitte folgende E-Mail: info@futurumverlag.com

oder Sie überweisen auf unser Konto bei der Postfinance Bern
CHF-Konto: CH61 0900 0000 6073 8142 6   BIC: POFICHBEXX
€-Konto: CH10 0900 0000 9144 9491 7   BIC: POFICHBEXX

Ein herzliches Dankeschön!

 
 

Wenn Sie mit uns Kontakt aufnehmen wollen, erreichen Sie uns unter:
contact@moulindelarouchotte.com

Diese Information wurde automatisch versendet. Bitte antworten Sie nicht, die Absender-Adresse ist nur zur Versendung von den «Briefen» eingerichtet.


Von den «Briefen» abmelden
«Brief» im Browser öffnen


Impressum