Bin ich gemeint?
 

Lieber unbekannter Mensch,

etwas in mir will sich an Dich richten, nur an Dich.

Ich nenne Dich einen Unbekannten, weil niemand sich zu Dir bekennt. Nicht, weil ich Dir noch nicht die Hand gegeben, Deine Meinung erfahren oder Deine Bekanntschaft gemacht habe. Niemand bekennt sich zu Deinen Zweifeln, zu Deinen Fragen. Niemand bekennt sich zu Deiner Not. Du, der unbekannte Mensch, bist in uns allen. Du liest diesen Brief, der aus irgendeiner sonderbaren Mühle im französischen Hinterland in die Welt abgesetzt wird, und fragst Dich vielleicht: Bin ich gemeint? Woher kennen die mich?

Du bist mit Deinen Zweifeln schon unterwegs gewesen mit Maria und Joseph auf der Flucht nach Ägypten, Du, der unbekannte Mensch, hast mit den Hirten auf dem Feld gestaunt, als es plötzlich licht wurde um eure Herzen. Du fragst Dich die Frage „Woher kennen die mich?“ vielleicht auch, wenn Du plötzlich auf dem Handy von einem Amt gerufen wirst, weil Du Dir in einem Waschsalon nicht die Hände desinfiziert hast und das eine Kamera beobachtet hat.

Ich jedenfalls möchte mich zu Dir bekennen, weil ich Dich achte. Du bist mein Bekannter, mein Bruder, und Du bist auch meine Schwester. Du bist die Vielfalt. (Wir kennen uns alle wenig, wie Hölderlin schrieb, „denn es waltet ein Gott in uns“.)

Ich schreibe diesen Brief in ein unbekanntes Jahr hinein, von dem ich möchte, dass es eines der Hoffnung wird. Zu dieser irren Hoffnung bekenne ich mich gleich mit. Ich schreibe es, weil wir alle zwar unentwegt moralische Bekenntnisse von einander verlangen – und ich fürchte, das wird noch zunehmen –, aber uns immer weniger zu einander als individuelle Menschen bekennen. Wir werden einander fremd. Wir werden einander Un-Bekannte. Gleichzeitig liegen wir nackt vor einander da: im Netz, als Daten.

Ich möchte Dir daher sagen, lieber unbekannter Mensch, egal wo Du gerade bist, mein Freund, egal auf welchem Kontinent Du diese Zeilen liest: Ich sage vollkommen Ja zu Dir, zu Deiner Potenzialität, Deiner Verborgenheit, zu jedem Wort, das Du sagst, und jedem Lied, das Du singst. Ich sage Ja zu Deinem Ich.

(Denn auch der werdende Mensch in dem Kind im Stall in Bethlehem war der Unbekannteste unter allen Unbekannten. Dieses Wesen war die große Unbekannte in der Gleichung der Mächtigen – und bleibt es.)

Wir sind Samenkörner. Die Zukunft hat schon begonnen. Du bist in Sicherheit.

von Andreas Laudert

 

Zerwürfnis oder Entscheidung

von Taja Gut

Mit Anfang zwanzig hat mich das Leben des Franziskus von Assisi zutiefst beeindruckt, sodass ich zusammen mit einem Freund die noch nicht von Touristenströmen gefluteten Orte aufsuchte, an denen er gewirkt hat, und in abgewandelter Form den franziskanischen Gruß Pax et Bonum (der allerdings nicht von ihm selber stammt) in meinen Briefen übernahm: Peace and Patience. Amerikanisch, weil ich zugleich ebenso bewegt war durch den Dharma Bum Jack Kerouac. – Friede und Geduld. Eigenschaften, mehr: Lebensweisen, zu denen ich mich natürlich damals mit dem Gruß vor allem selber aufrief und die heute gänzlich aus der Zeit gefallen zu sein scheinen, durch die wir atemlos getrieben werden.

Friede. Meist wird darunter – in einer Art Negativdefinition – die Abwesenheit von Krieg, das Unterbleiben von Aufständen und Unruhen verstanden, etwas Unsicheres also, stets Bedrohtes, woraus nahezu sämtliche Staaten der Welt die Notwendigkeit ihrer Armeen ableiten. Frieden dank unablässiger Aufrüstung? Als wäre er der Ausnahmezustand und, in allzu wörtlicher Auslegung von Heraklits Ausspruch vom Krieg als Vater aller Dinge, dieser die natürliche Lebensform der Gesellschaften. Friede als Pakt, nicht als Versöhnung, Freundschaft gar.

Nun überliefern aber die Evangelien nicht nur das Christus-Wort «Meinen Frieden gebe ich euch» (Johannes 14,27), sondern auch dieses: «Meint ihr, dass ich gekommen sei, Frieden auf Erden zu bringen? Nein, sage ich euch, sondern Entzweiung.» (Lukas 12,51; bei Matthäus 10,34 heißt es sogar: «das Schwert») Das griechische Wort im Urtext für Entzweiung, diamerismós, weist eine beunruhigende Nähe zum biblischen Namen des Teufels, diábolos, auf. In Wladimir Solowjows Kurzer Erzählung vom Antichrist usurpiert dieser denn auch den Friedensgruß des Christus raffiniert: «Völker der Erde! Ich gebe euch meinen Frieden!» (1) Einen Frieden aus verschleiertem Rechtsbruch und nicht ‹Zustand der ungebrochenen Rechtsordnung als Grundlage des Gemeinschaftslebens›. (2)

In welchem Verhältnis dazu steht nun das gleich zu Beginn der Corona-Krise anbefohlene Abstandhalten zwischen uns Menschen, das Social Distancing, das sich durch den angeblichen ‹Königsweg› aus der verfahrenen Situation, die Impfung, zur gesellschaftlichen Kluft vertieft hat? Anders gefragt: Was unterscheidet die Entzweiung, die Christus bringt, von dem, was der Teufel, der diábolos, uns beschert?

(Zwischenbemerkung: Ich bin kein Philologe oder gar Gräzist, aber seit meinem ersten gelb-blauen Langenscheidt-Dictionnaire, den ich in der Sekundarschulzeit erwarb, ein Liebhaber von Wörterbüchern. Zwar ist jedes geschriebene Buch, wenn man so will, ein Wörterbuch. Aber nur in den eigentlichen Wörterbüchern erhält jedes Wort, ungeachtet seiner Bedeutung, die ihm gebührende Würdigung und wird transparent auf seine Tiefenschichten, seine Herkunft und Geschichte, die ihm eingeschrieben bleiben.)

Die Vorsilbe diá- hat die Bedeutung von ‹auseinander, mitten entzwei›, wie die entsprechende Vorsilbe im Deutschen, zer-. Das altgriechische Wort diabállein – wörtlich ‹auseinanderwerfen› – lässt sich mit ‹Zerwürfnis stiften, verleumden› übersetzen; der diábolos ist der ‹Durcheinanderwerfer, Verwirrer, Faktenverdreher, Verleumder›. Der von Christus gebrachte diamerismós dagegen schafft Klarheit, wenn auch in unerwarteter Schroffheit, leitet das Wort sich doch von diamerizō, ‹teilen, zerteilen›, ab und ließe sich wiedergeben mit ‹Zwiespalt, Uneinigkeit, Teilung›– am treffendsten vielleicht mit ‹Entscheidung›. Auf den ersten Blick kommen sich die beiden Begriffe auch im Deutschen beunruhigend nahe. Ohne Entscheidung aber verbleiben wir in der Knautschzone der Widersprüche. Es geht um die Entscheidung zwischen dem Frieden des Christus und dem des Antichrist, zwischen der Wahrheit, die frei machen wird, und der Verdrehung der Wahrheit, die in die Unfreiheit führt.

Geduld. Wie der Friede hängt auch das Wesen der Geduld von unserer Entscheidung ab. Sind wir bereit, in Langmut zu ertragen und zu erwägen, was sinnvoll ist zu tun, oder lassen wir uns von der rasch in Zwängerei und Zwang umschlagenden Ungeduld mitreißen? Es gibt die Geduld, die wir im natürlichen Kreislauf von Wachstum, Reifen, Vergehen und scheinbarem Stillstand der Vegetation erleben können. Und es gibt eine Geduld, die ein Computer uns als seine Bediener abfordert, etwa wenn eine neue Installation in Gang gesetzt wurde und wir einfach nur warten können, bis das Gerät wieder tut, wozu wir es eigentlich angeschafft haben. Da sind wir gezwungen, uns sozusagen ungeduldig zu gedulden, letztlich also in Ungeduld zu üben.

Nach bald zwei Jahren der alles beherrschenden Einschränkungen und Gängelungen, zu denen das griechische Alphabet missbraucht wird, lässt sich im Rückblick beobachten, wie Entschleunigung und geduldige Hinnahme der Maßnahmen anfänglich fast als Entspannung empfunden wurden. Und wie dann Schritt um Schritt, erst durch Verordnung der Gesichtsverhüllung, dann durch die immer haltloser verkündete Erlösung mittels einer in aller Hast fabrizierten Impfung eine kopflose Ungeduld geschürt wurde, die schließlich sogar eine Urdemokratie wie die Schweiz in ihren Fundamenten zu zerstören begonnen hat. Daher sorgte ein im Herbst freundlich daher geplauderter Satz des Chefs des Zürcher kantonalen Amts für Gesundheit in einem Fernsehinterview auch kaum für Aufsehen: «Im Grunde genommen ist in einer Pandemie eine gutmütige Diktatur eine gute Art und Weise, um die Pandemie zu bewältigen.» (3) Etwas weniger freundlich und mit einem Schuss Zynismus formuliert, ließe sich entgegnen, dass die Demokratie Schweiz gar keiner Diktatur bedarf, da die Stimmberechtigten – der ‹Souverän› – sich gehorsam immer wieder selbst entmachten. Aber verrät das eigentlich nicht schon der mit einem gewissen Stolz vorgebrachte Satz, dass wir dank direkter Demokratie bei jeder Volksbefragung unsere Stimme abgeben dürfen?

 

(1)     Wladimir Solowjow: Drei Gespräche. Deutsch von Erich Müller-Kamp, Hamburg und München, Verlag Heinrich Ellermann 1961; S. 219.

(2)     So Duden, Das Herkunftswörterbuch, Stichwort ‹Friede[n]›, zum Begriff, der aus dem Altgermanischen herrührt.

(3)     ZDF-Auslandsjournal vom 29. September 2021, https://www.zdf.de/politik/auslandsjournal/die-sendung-vom-29-september-2021-100.html; 06:30.

 

 
 

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