Nummer 4 und wer ist zuviel?
 

Liebe Briefleserin, lieber Briefleser

Briefe entstehen aus dem Moment, erzählen aus dem Leben und möchten etwas mitteilen.
Man könnte die Intention unserer Schreiben auch viel eleganter formulieren, wie es zum Beispiel Schelling tat in seinem achten Brief in den «Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus»:
«Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen. Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben».

So verstehen wir unsere Schreiben, immer wieder von einer inneren, eigenen Erfahrung ausgehend und an Sie, liebe Lesende, gerichtet.

Mit herzlichen Grüßen
Claudia Zangger

 

Zu viel?

Von Kerstin Chavent

An einem der letzten lauen Herbstabende sitze ich mit Freunden an einem großen Holztisch und warte auf etwas, was ich eigentlich nicht esse: Schnecken. Wochen vorher hatte unser Wirt sie aus unseren Gärten gesammelt und in aufwändiger, langwieriger und liebevoller Arbeit nach einem überlieferten Familienrezept zubereitet. Beim Schein vieler Windlichter und mit Blick auf das unter uns liegende Tal drehen sich die Gespräche um leichte Kost. Erst beim Käse kommt ein großer Happen auf den Tisch: das Thema Überbevölkerung.

Um mich herum ist man sich einig: Wir seien zu viele. Auf der Erde sei kein Platz für alle. Die Menschheit sei geradezu explodiert und wohin das führt, das haben wir ja vor Augen. Also müssen wir weniger werden. Der Mensch habe ohnehin so viel Schaden angerichtet, dass er es im Grunde nicht besser verdient, als wieder vom Erdboden zu verschwinden. Die Natur komme besser ohne uns zurecht.

Es stimmt: Die Wälder sind gerodet, die Gewässer vergiftet, die Böden verseucht, die Luft kaum noch zu atmen. Alles Lebendige haben wir missachtet und aus dem einstigen Paradies eine Hölle gemacht. Doch kann es die Bestimmung des Menschen sein, am besten überhaupt nicht geboren zu werden? Kann es die Lösung sein, uns jetzt, wo es brennt, aus der Verantwortung zu stehlen und wie bockige Kinder zu weigern, ihr Zimmer aufzuräumen? Halten wir es für richtig, es denen zu überlassen, die wir am meisten ausgebeutet haben, zuerst zu gehen? Denn mit dem „zu viel“ meinen wir nicht uns selbst und unsere Familien, sondern die anderen. Diejenigen, die sagen, wir seien zu viel, sind alle doppelt geimpft und warten gerade darauf, geboostert zu werden. Damit sie sich sicher fühlen, unterstützen sie Maßnahmen, die alle anderen zwingen, sich ebenfalls impfen zu lassen. Offensichtlich wollen sie noch ein wenig bleiben.

Mit einem kräftigen Schluck Rotwein spüle ich den Gedanken herunter, dass sie, wenn sie wirklich meinen, wir seien zu viele, mit gutem Beispiel vorangehen könnten. Sie könnten aus ihrer Familie ein oder zwei heraussuchen, auf die es nicht so ankäme. Die schwarzen Schafe vielleicht, die sowieso Kranken oder die Umgeimpften. Dann ist es also in Ordnung für euch, sage ich, dass es Hungersnöte gibt, Kriege und Massenvernichtungswaffen. Die sorgen ja dafür, dass wir weniger werden. Es sei also geradezu erstrebenswert, dass möglichst viele Menschen sterben und unfruchtbar gemacht werden, ob mit oder ohne ihr Einverständnis. Auch Epidemien und ihre Kollateralschäden wären eine gute Sache, wenn ihr denkt, unser Problem sei die Überbevölkerung.

Seht ihr denn nicht, so schreit es in mir, dass ihr mit eurem lapidar dahingeworfenen „Wir sind zu viele“ einen Freibrief für jede Form von Verbrechen unterzeichnet? Jede noch so barbarische Tat wird hierdurch legitimiert. Den dunkelsten Mächten öffnet ihr hiermit Tor und Tür. Endlich kämen sie ans Ziel, die großen Vernichter, die uns seit Jahrtausenden erzählen, der Mensch sei ein Sünder, eine Fehlkonstruktion, eine unnütze Kreatur, nicht mehr als eine Virenschleuder, die umprogrammiert werden muss, um es, wenn überhaupt, noch zu etwas zu bringen. Der Himmel ist leer und das Universum ein schwarzes Loch, flüsterten sie uns ein. Es ist alles Zufall und hat keinen Sinn. Ohnmächtig, frustriert und voller Selbsthass haben wir uns ihnen hingegeben und lassen uns den letzten Lebenssaft aussaugen, den Treibstoff für die, die nicht zu dem in der Lage sind, was wir können: schöpferisch tätig zu werden und Neues zu erschaffen. Sie können nur kaputtmachen.

Nein, so sage ich es nicht in geselliger Runde. Doch ich sage es hier: Passen wir darauf auf, welche Kräfte wir nähren! Lassen wir uns nicht verführen. Lassen wir uns nicht einreden, wir seien schlecht, ohnmächtig, wertlos, überflüssig – zu viele. Hören wir endlich auf damit, uns selbst zu erniedrigen und entziehen wir denen die Macht, die sich auf unsere Kosten über uns erhöhen. Kein Mensch ist dem anderen über- oder untergeordnet. Wir sind alle gleichgestellt, einzigartig und verschieden. Kein Leben ist mehr oder weniger wert. Jedes Lebewesen, das auf die Welt kommt, hat seine Daseinsberechtigung und seinen Platz.

Machen wir der Züchtigung und der Zucht ein Ende. Glauben wir nicht, das Recht zu haben, über anderes Leben verfügen zu können. Wir meinen, andere Lebewesen unter schlimmsten Bedingungen für uns leben und sterben lassen zu dürfen, wenn wir sie zu diesem Zweck züchten. So weit sind wir gegangen, dass wir uns heute selbst zu beliebig programmierbaren, seelenlosen Fleischhüllen machen lassen. Unserer Menschlichkeit entledig, fallen wir schließlich den Geistern zum Opfer, die wir gerufen haben.

Unsere Aufgabe ist es, sie jetzt wieder in ihre Schranken zu verweisen. Werden wir uns darüber klar, wer wir sind, wenn sie so sehr nach uns gieren. Wir sind keine überflüssige Fehlkonstruktion, sondern Wesen mit großartigen, wundervollen Fähigkeiten und Gaben. Es ist keine Frage der Zahl, sondern der Lebensweise. Es geht um die Qualität, nicht um die Quantität, um den Inhalt und nicht um die Form. Wir wurden darauf konditioniert, uns mehr für die Packung zu interessieren als für das, was drin ist. Die Zahl haben wir zum neuen Gott erhoben, zum Maß aller Dinge, zum Zweck, der alle Mittel heiligt. Befreien wir sie von dieser Macht. Niemand würde bei einem Baum auf die Idee kommen, er habe zu viele Blätter.

Zu viel sind nicht wir, sondern unsere Produktionsweise und unser Konsumverhalten. Die Ausbeutung und die Zerstörung sind zu viel, die Vorstellung, dass die Erde und alles, was auf ihr lebt, nichts weiter sei als Ressource, ein Ding, das man beliebig manipulieren kann. Die Idee, die Natur müsse dominiert und verbessert werden, ist zu viel. Die Hierarchien und Machtstrukturen sind zu viel, die global wirkenden Giganten und Industrien, die Finanzeliten, Digitalunternehmen und Energiekonzerne. Nicht wir sind zu viel, sondern Google, Amazon, Facebook, Microsoft, Apple, Vanguard und Blackrock und diejenigen, die sie lenken. Diese Riesen brauchen keine acht Milliarden Menschen, um weiter zu existieren. Eine halbe Milliarde genügt ihnen.

Es geht nicht darum, ob wir zu viele sind, sondern ob wir uns als Menschen weiterentwickeln wollen oder zur Maschine werden. Wer die Maschine wählt, der verliert alles. Wer sich dafür entscheidet, ganz Mensch zu werden, der räumt jetzt in sich auf. Er bringt seine zynischen und zerstörerischen Vorstellungen auf den Recyclinghof und richtet seine Antennen nicht mehr auf das Niedrigste in ihm aus, sondern auf das Höchste. Er verbündet sich mit der Erde. Tief lässt er seine Wurzeln in sie hineinwachsen, bis sie das Feuer im Inneren des Planeten berühren. Dieses Feuer weist ihm den Weg. Denn die Flamme ist stets nach oben gerichtet.

In sich spürt er die tiefe Verbundenheit. Er weiß: Er ist nicht nur ein Teil der Natur. Er ist Natur. Hier hat alles seinen Platz und seine Bedeutung. Entfernt man ein Element, hat das Konsequenzen für das Gesamte. So macht auch der Mensch Sinn. Der Planet würde ohne uns auskommen – doch wir würden fehlen. Als verkörpertes Bewusstsein sind wir eine Brücke zwischen Himmel und Erde, Geist und Materie, Schöpfer und Erschaffenem. Als schöpferische Wesen haben wir die Fähigkeit, das Ganze höher oder tiefer schwingen zu lassen, denn wir haben die Wahl, welche Energien wir auf die Erde einladen.

 

Meine Helden und die Spaltung

Von Jonathan Stauffer

Es ist ein Axiom der Conditio humana, dass wir nie die umfassende und allgemeingültige Wahrheit als Individuum erkennen können. Wir kommen dieser absoluten Wahrheit näher, wenn wir die verschiedenen individuellen Wahrheiten ergänzen, am besten in einem Gespräch, das diesen Namen verdient. Bleiben wir Solisten, neigen wir dazu, unsere Wahrheit zu bestätigen und alles, was ihr widerspricht, auszublenden. Der Mensch ist durch und durch ein soziales Wesen und seine Wahrheit verdorrt, wenn sie nicht durch andere Wahrheiten genährt wird. Lügen jedoch haben in der zwischenmenschlichen Suche nach Wahrheit keinen Bestand, sie vergiften das Gesprächsklima und erzeugen ein Vakuum, das irgendwann implodiert.

Seit dem Frühjahr 2020 ist viel von der Spaltung der Gesellschaft die Rede, eine Spaltung die mitten durch die sozialen Gefüge geht, durch Partnerschaften, Familien, Arbeitsgemeinschaften, überall, wo eine soziale Gemeinschaft war, frisst sich dieser Spaltpilz ein. Bildungsstand, politische Ausrichtung, sozialer Status, Alter oder Geschlecht spielen keine Rolle.

Spaltung ist jedoch nicht einfach etwas Negatives. Wenn ich täglich Holz spalte, um eine warme Wohnung zu haben, Gemüse schneide, Mehl mahle oder eine Erkenntnis gewinne – immer bediene ich mich der Spaltung um eine Verwandlung zu erreichen. Ja, die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt ist Voraussetzung für Erkenntnis.

Ich bin in einer gespaltenen Welt aufgewachsen, in der Zeit des Kalten Krieges. Auch damals konnte diese Spaltung ins Persönliche gehen, auch damals gab es Berufsverbote, auch damals war es nicht möglich, überall alles zu sagen. Auch damals wurde die jeweilige Gegenseite mit abwertenden Bezeichnungen verletzt. Auch damals gab es systematische Propaganda und gezielt gestreute Fake-News, auch damals gab es Zensur und die Schere im Kopf. Im Rückblick scheint das im Vergleich zu heute aber harmlos gewesen zu sein, obwohl es nicht harmlos war. Es muss also einen Unterschied geben zu damals, der die unheimliche Macht des gegenwärtigen Spaltungsprozesses verständlicher machen kann. Klarheit werden wir wohl erst in späteren Jahren gewinnen können, denn wir stecken alle mitten im Geschehen, einem Geschehen, das im Gegensatz zum Kalten Krieg in einem globalen Lockstep läuft.

Ein wichtiger anderer Unterschied zu damals ist die Rolle, die heute die Kulturschaffenden einnehmen. Im März 2020 sind sie sozusagen untergegangen, in Schweigen, in der Rolle als Propagandisten, in Verzweiflung. Viele meiner Helden, die mein Leben begleitet, ja geprägt haben, sind einfach verstummt. Viele nach Jahren der künstlerisch-kritischen Haltung, nach Jahren, in denen sie ein Frühwarnsystem waren und den Finger in die Wunde gelegt haben. Das ist ein Schock. Und ich frage mich verzweifelt, was wohl in ihnen vorgeht. Konstantin Wecker, Franz Hohler, Reinhard Mey, Bob Dylan. Es ist keine Altersfrage, auch die französische Sängerin ZAZ schweigt sich aus. Sie hat gerade ein neues Album veröffentlicht, nach 2 Jahren Pause. Ihre Stimme ist gewachsen, voller Menschenliebe, weiträumig und poetisch. Aber kein Wort zur Situation, ja sie geht auf eine grosse Tournee, akzeptiert, dass viele Ungeimpfte draussen bleiben müssen. In meiner Ratlosigkeit denke ich dann an die Verstorbenen, wie hätten sie reagiert? Hans Dieter Hüsch, John Cage, Mani Matter, Jacques Brel – es ist doch unvorstellbar, dass sie alles hingenommen hätten! Wir können es nicht wissen und ich befürchte, die Antwort ist offen. Die wenigen Ausnahmen, Van Morrison oder Eric Clapton zum Beispiel, nehmen wir jetzt staunend zur Kenntnis.

Weshalb schmerzt mich dieser Totalausfall der Kulturschaffenden? In den anderen Kunst-Disziplinen sieht es ja nicht anders aus? Vielleicht ist es doch die Enttäuschung, dass sie nicht meine Wahrheit teilen, oder diese nicht sehen können und wollen? Dann vollziehe ich bereits eine Spaltung, denn ich ordne sie den «anderen» zu. Vielleicht haben sie wirklich Gründe für ihr Verhalten, die ich nicht kenne und die wohlüberlegt sind. Liegt nicht da die verheerende und ungeheure Dimension dieser Spaltung? Es geht um alles oder nichts. Dieses Klima kann sich auch deshalb so rasant entwickeln, die Menschen so perfide aufhetzen, weil die Kunst ihre Aufgabe nicht mehr wahrnehmen kann.

Mein Unverständnis bleibt bestehen, aber im Herzen neige ich mich nach wie vor dankbar vor meinen Helden. Es liegt zwar ein Schatten von Traurigkeit in meinem Gemüt, wenn ich ihre Musik höre, die mich geprägt hat, ich fühle jedoch, dass es nicht böser Wille sein kann, sondern menschliches Unvermögen, ihre künstlerische Mission im Moment weiter zu verfolgen. Die Frage eines Irrtums meinerseits ist offen, spielt aber hier keine Rolle, denn ihr Verstummen ist das Phänomen, um das es geht. Wie eine Erinnerung an eine andere Welt wirkt das aufmüpfige Kunst-Stück des Musikers HK «Il faut danser encore», das im Frühjahr in ganz Frankreich und auch in anderen Ländern aufgeblüht ist. Was für eine heilsame Kraft wäre es, wenn sich dem andere Musiker, Künstler und Dichter anschliessen könnten.

 

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